Ich glaube nicht, dass man pauschal sagen kann, dieses oder jenes Land ist das toleranteste der Welt. Dazu kommt, dass das Wort "Toleranz" seit Jahren geradezu inflationär gebraucht wird, aber doch jeder darunter etwas anderes versteht. Eigentlich geht es dabei um die Achtung der Vielfalt der Kulturen und den unterschiedlichen Ausprägungen des Menschseins, oder salopp gesagt um die Wertschätzung vor den universellen Menschenrechten und Grundfreiheiten anderen. Das sollte aber nicht damit gleichgesetzt werden, dass alles in der Öffentlichkeit erlaubt sein kann.

Klar sind Ungerechtigkeiten, Diskriminierung, Ausgrenzung oder gar Gewalt abzulehnen. Wieviel Toleranz jemand einem anderen gewährt hängt davon ab, welches unabhängige Urteilsvermögen jemand hat, auf der Grundlage von kritischem Denken sowie ehtischer und kultureller Überlegungen. Das lässt sich nicht durch provokantes Auftreten erzwingen, sondern muss wachsen. Im Prinzip war die Privatsphäre schon immer der Ort, wo man unterschiedliche Neigungen ausleben konnte, ohne dass es jemanden interessierte, sofern man jetzt nicht unbedingt - krass formuliert - als "öffentlicher Schandfleck" draußen runläuft. Wobei ich ziemlich häufig die Feststellung machen musste, dass gerade jene, die für sich selbst 100% Toleranz einfordern, anderen gegenüber 0% Toleranz aufzubringen bereit sind.

Man braucht sich da nur die Entwicklung in Deutschland ansehen. Noch in den 1950er und 60er Jahren wurde über Sexualität nur hinter vorgehaltener Hand gesprochen, und Homosexualität war bis 1969 gar noch ein Straftatbestand. Inzwischen hat sich eine 180°-Wendung vollzogen: seit Jahren darf jeder seine sexuellen Phantasien in aller Öffentlichkeit ausbreiten, und wer das kritisiert, wird sofort mit dem Totschlagetikett der Diskriminierung und Intoleranz bedacht. Das führte dazu, dass bei vielen aus Toleranz Gleichgültigkeit, Abgestumpftheit und Augenverschließen geworden ist.