Daumenlutscher:

Ich war knapp 6 Jahre alt und Zeit für mich, ins Bett zu gehen. Mama erledigte das meistens. Sie nahm mich an der Hand und gemeinsam gingen wir in mein Zimmer. Dort zog ich meinen Schlafanzug an und schlüpfte unter die Decke. „Magst du noch eine Geschichte hören?“ fragte sie mich. „Au ja. Bitte Mama.“ rief ich begeistert, kuschelte mich in mein Kissen und steckte den Daumen in den Mund. Sie guckte etwas sauer auf mich und sagte: „Na, da weiß ich doch genau die richtige Geschichte für dich.“ Sie ging zu meinem Bücherregal und zog den Struwwelpeter heraus. Grinsend setzte sie sich dann auf den Stuhl nebem dem Bett und schlug die meist gelesende und betrachtete Seite im ganzen Bilderbuch auf. Und dann fing sie an, mir vorzulesen:

„Michael“ sprach die Frau Mama, ich geh aus und du bleibst da...

Ich hörte ihr genau zu. Obwohl ich die Geschichte schon hundertmal vorgelesen bekam. Und immer hieß der Daumenlutscher nicht „Konrad“, sondern „Michael“. Ich eben.
In Gedanken sprach in den Text mit. Ich kannte ihn schon auswenig. Und obwohl ich wußte, das es nur ein Märchen war, bekam ich immer wieder etwas Angst. Aber meinen Daumen nahm ich trotzdem nicht raus. Der hilft mir nämlich, wenn ich mich fürchte. So wie jetzt.

„...ohne Daumen steht er dort. Die sind alle beide fort.“

Sie schloß das Buch und gab mir einen Kuß auf die Stirn. „Schlaf schön, Michi.“ sagte sie noch, stellte das Buch zurück und löschte das Licht. Und als die Tür geschlossen wurde, saugte ich stärker an meinem Daumen. Weil ich Angst hatte, am nächsten Morgen vielleicht ohne ihn aufzuwachen...