Die Nacht bei Rosa
"Bist du immer noch nicht fertig mit Aufgabe b)??", fragte mich Rosa mit leicht genervtem Tonfall und schaute neugierig auf mein kariertes Mathe-Heft.
Mich ärgerte diese Frage. Wer kann sich schon konzentrieren, wenn daneben jemand seit fünf Minuten ungeduldig die Füllerkappe auf- und zuschnappen lässt??
"Doch! Gleich!", log ich und entzog mein Heft ihren Blicken. In Wahrheit war ich hoffnungslos stecken geblieben. Wozu braucht man bloß Bruchrechnung? Kann man nicht bei den normalen Zahlen bleiben? Warum musste diese verdammte Mathematik immer komplizierter werden?
"Kannst ruhig schon die nächste Aufgabe anfangen", erlaubte ich ihr und hoffte, damit Zeit zu gewinnen.
Eigentlich hatte ich ja nur den Nachmittag zwischen Schulschluss und der Reiseankunft meiner Eltern überbrücken sollen bei Rosa zu Hause. Die Hausaufgaben schon jetzt, am Freitagnachmitttag, mit ihr zusammen hier an ihrem Schreibtisch zu erledigen, war ihre Idee gewesen. Normalerweise begann ich darüber erst am Sonntag nachzudenken und fühlte mich nun etwas bedrängt von ihrem Ehrgeiz.
Rosa und ich gingen gemeinsam in die 5. Klasse einer Berliner Grundschule. Wir verstanden uns gut, auch wenn ich sie nicht wirklich als Freundin bezeichnet hätte. Vor allem aber gehörten wir beide zu den wenigen leistungsstärkeren Schülern der Klasse, was uns einerseits verband, andererseits auch zwangsläufig dafür sorgte, dass wir uns aneinander messen mussten, denn dafür eignete sich sonst kaum jemand. Rosa war ein paar Monate jünger als ich, aber trotzdem fast einen halben Kopf größer.
Am liebsten trug sie einen braunen Kord-Overall, ich damals oft eine braune Kordhose, eine kleine Gemeinsamkeit die uns aber nie wirklich auffiel. Und beide trugen wir die zu der Zeit übliche Frisur, die aussah, als hätte man uns einen Kochtopf aufgesetzt und drumherum geschnitten. Auch unsere braune Haarfarbe war die gleiche, ihr Haar war nur etwas länger.
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