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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Inkontinenz im Ernstfall: Was passiert mit uns, wenn es plötzlich ernst wird?



Skizzler
01.08.2025, 08:58
In den letzten Monaten stelle ich mir immer wieder dieselbe Frage – vor allem, wenn ich morgens die Nachrichten lese:

Was würde eigentlich passieren, wenn Deutschland morgen im NATO Bündnisfall bzw. im Verteidigungskrieg wäre?
Was bedeutet das für Menschen wie uns – insbesondere für inkontinente Männer zwischen 18 und 55?

Ich spreche das an, weil ich zur Generation gehöre, die noch zur Bundeswehr musste. Ich wurde damals mit T2 gemustert und habe meinen 10-monatigen Wehrdienst bei der Luftwaffe geleistet. In der Zeit war Inkontinenz noch kein Thema – ganz einfach deshalb, weil ich konsequent auf Alkohol verzichtet habe und zu der Zeit keine Beschwerden hatte.

Heute sieht das gänzlich anders aus. Und ich weiß, dass ich damit ja nicht allein bin, sondern wir, mit hoher Dunkelziffer, einige Betroffene in dem Alter sind ;-)

Im Ernstfall, also bei einer Reaktivierung der Wehrpflicht oder gar Mobilmachung, werden Männer meines Alters theoretisch wieder geprüft – medizinisch und im Hinblick auf ihre „Verwendungsfähigkeit“. Und dann?

Wird Inkontinenz ernst genommen?
Reicht das Attest des Urologen?
Ist man automatisch nicht wehrfähig?
Wie ist das aktuell der Fall in der Ukraine?

Gibt es überhaupt Strukturen, um Menschen mit chronischem Hilfsmittelbedarf wie uns zu versorgen?
Wäre es überhaupt möglich das Thema mit Hygiene, Diskretion, Windelwechsel im Feld, zu realisieren – falls es hart auf hart käme?

Ich frage mich auch, wie es sich anfühlen würde, das erklären zu müssen. In einem Umfeld, in dem körperliche Leistungsfähigkeit oft noch mit Männlichkeit gleichgesetzt wird.

Mir ist klar: Das ist ein Szenario, das wir alle hoffen, nie erleben zu müssen. Aber ich finde, wir sollten es nicht verdrängen – gerade wenn man auf medizinische Hilfsmittel angewiesen ist. Denn eins ist sicher: Im Ernstfall gibt es keine perfekten Bedingungen.

Mich würde interessieren:
• Habt ihr euch mit dem Gedanken schon beschäftigt?
• Habt ihr Ideen, wie offen Inkontinenz im medizinischen militärischen Kontext (z. B. bei Musterungen) wirklich gehandhabt wird? Gibt es jemandenhier im Forum der bei der Bundeswehr tätig ist und Infos geben kann?
• Oder denkt ihr: „Im Ernstfall wird das eh alles ignoriert“?

Ich bin gespannt auf eure Perspektiven.

Danke & Liebe Grüße
Tristan

Pimpernuckel
01.08.2025, 10:56
Ist man automatisch nicht wehrfähig?

Nein, natürlich nicht. Du bist eben vermindert einsatzfähig und erstmal nicht fronttauglich, aber selbstverständlich kannst du noch im Bereich Versorgung und Nachschub, Instandhaltung, Sanitätsdienst, Wachdienst und so weiter eingesetzt werden. Das muss ja im Krieg auch geleistet werden. Du könntest also, um mal bei deinem Beispiel mit der Luftwaffe zu bleiben, auch Zünder in Bomben eindrehen, die Bordkanonen aufmunitionieren, die Mühle betanken und dran rumschrauben. Und wenn du schon mal deine Windel drum hast und nicht so oft aufs Klo musst, kannst du sicher auch stundenlang im Tower auf das Radar starren und mit den Piloten herumfunken. Alles weitere ist wohl keine Überlegung wert. Wenn es hart auf hart kommt, ist es deinen Kameraden wirklich scheißegal, ob du Windeln trägst und beim Wechsel nackig im Schützengraben stehst. Solange du deinen Dienst machst und anderen den Arsch rettest, wird sich da keiner beschweren. Und auch da wieder: Du könntest dich mit deiner Windel ja auch stundenlang irgendwo einbuddeln und Aufklärung oder Scharfschütze machen. Das mit der Versorgung hatten wir schon zwei Threads weiter ( https://www.wb-community.com/showthread.php?62771-Windeln-in-Kriegszeiten ). Krieg ist nicht automatisch Chaos und kompletter Zusammenbruch der Zivilisation. Das beweist aktuell der Ukraine-Krieg und auch in den großen Kriegen hatten die Leute lange Zeiten ein relativ normales Leben. Mangelversorgung ist ja eher ein Langzeiteffekt durch fehlenden Nachschub an Rohmaterialien und Umstellung auf Kriegsproduktion in Folge der politischen Isolation, aber auch da haben wir ja den Gegenbeweis vor der Nase. Russland ist noch lange nicht am Ende, weil es von anderen mächtigen und wirtschaftsstarken Nationen gestützt wird. Das ist eben nicht mehr wie im 2. Weltkrieg...

Pi

Skizzler
01.08.2025, 11:23
Hey, danke dir für deine ausführliche Antwort – ich weiß das wirklich zu schätzen!

Einiges von dem, was du sagst, teile ich. Gerade der Punkt, dass es in so einem Szenario nicht um Front oder nichts geht, sondern auch logistische, technische oder sichernde Aufgaben existieren, ist ja auch ein Teil der Debatte, die ich anstoßen wollte.

Mir ging’s aber tatsächlich weniger um theoretische Verwendungsoptionen oder das berühmte „Wenn du schon die Windel trägst, dann kannst du auch XYZ machen“ – sondern eher darum, wie das real in der Bewertung durch die Bundeswehrärzte ablaufen würde:
• Wer beurteilt, ob ich dienstfähig bin?
• Wie wird meine zivilärztliche Diagnose (OAB, Enuresis, Prostatahyperplasie) eingeordnet?
• Wird das angezweifelt oder übernommen?
• Wird unterschieden zwischen „tauglich, aber eingeschränkt“ und „T5, komplett untauglich“?
• Welche Rolle spielt die Frage, dass ich offiziell Hilfsmittel verschrieben bekomme oder oder oder…

Was die Verwendung im Tower oder als Scharfschütze angeht – ganz ehrlich: Da finde ich es hilfreicher, bei realistischen, medizinisch relevanten Einschätzungen zu bleiben. Wir reden hier nicht von einem Computerspiel. Auch wird niemand mit einer nachgewiesenen Harninkontinenz und chronischem Verlauf unter einem Tarnnetz auf dem Hügel postiert, nur weil er dank Windel nicht aufs Klo muss ;-)

Aber dennoch danke nochmal für deinen Input – aber mein Fokus bleibt erstmal bei der Frage: Wie läuft die Beurteilung wirklich ab? Was muss dokumentiert sein, was reicht aus, was wird kritisch hinterfragt?

Vielleicht hat da ja jemand hier im Forum sogar schon Einblick wie das gerade in der Ukraine gehandhabt wird – aus erster Hand oder ist in dem Bereich versiert

Thunderbird
01.08.2025, 12:13
Ich hatte 92/93 Zivi gemacht. Aber ich war mir damals schon nicht sicher, was in einen Ernstfall passieren wird, ob da wirklich Rücksicht darauf genommen wird. Bzw das man sich zurücklenen kann wärend Andere den Kopf hinhalten. Denke das man auch vorn dabei ist, das man der ist, der den Bunker für Zivilpersonen zu macht, also der Letzte der rein geht. Im Sannidienst arbeitet im Feldlazaret usw. Und wenn es nötig wäre einfach erklärt bekommt wo hinten und vorne beim Gewehr ist, und als Kanonenfutter endet. Wenn es hart auf hart kommt. Wird da wohl nicht so genau darauf geschaut.

LG
Jörg

Skizzler
01.08.2025, 13:28
Ich gehe fest davon aus, dass es in einem heutigen Kriegsfall vor allem auf spezialisierte, gut ausgebildete Kräfte ankommt, die mit modernen Mitteln und Taktiken operieren – nicht auf Masse und unausgebildete Rekruten, wie es z. B. in Russland der Fall ist, wo man Männern zum ersten Mal ein Gewehr in die Hand drückt.

Deutschland ist – bei aller Krisenbereitschaft – ein Rechtsstaat, der sehr stark über Vorgaben, Verfahren und klare Zuständigkeiten funktioniert. Auch im Verteidigungsfall werden gesetzliche Grundlagen nicht einfach ausgehebelt. Musterung, ärztliche Einschätzung und Verwendungsfähigkeit laufen ja weiterhin nach definierten Prozessen anhand von Gesetzen und Vorgaben.

Man sieht ja sogar in der Ukraine, dass dort nicht jeder automatisch bewaffnet an die Front geschickt wird. Auch dort gibt es rechtliche Verfahren, medizinische Ausmusterungen und differenzierte Einteilungen.

Mir geht es hier ganz konkret um den Ablauf: Wie wirkt sich eine medizinische Diagnose – Inkontinenz – auf die offizielle Wehrfähigkeit aus? Was wird geprüft, wer entscheidet, und wie belastbar sind zivilärztliche Unterlagen dabei?


Grüße
Tristan

Pimpernuckel
01.08.2025, 15:07
Wer beurteilt, ob ich dienstfähig bin?

Der Truppenarzt, ein hilfsweise hinzugezogener Amtsarzt oder ein dazu verdonnerter normaler Arzt. Im Falle eines Widerspruchsverfahrens entscheidet eine Kommission, wie das bei der normalen Musterung auch schon immer war.


Wie wird meine zivilärztliche Diagnose (OAB, Enuresis, Prostatahyperplasie) eingeordnet? Wird das angezweifelt oder übernommen? Wird unterschieden zwischen „tauglich, aber eingeschränkt“ und „T5, komplett untauglich“?

Das kann man dann wohl erst sagen, wenn es soweit ist. Es gibt ja nicht nur die allgemeine Tauglichkeit sondern auch noch die verwendungsspezifische. Mit bestimmten Seheinschränkungen kann man ja auch heute immer noch nicht Pilot werden, aber prima Flugzeugmechaniker. Sicher wird man deine Leiden berücksichtigen, aber im Verteidigungsfall wird dich keiner für komplett untauglich schreiben, nur weil du dir die Windel voll machst. Wie in meinen Beispielen ausgeführt, kannst du ja noch bestimmte Dinge tun ganz im Gegensatz zu den Leuten, die dann vielleicht mit schweren Verletzungen von der Front kommen.


Welche Rolle spielt die Frage, dass ich offiziell Hilfsmittel verschrieben bekomme oder oder oder…

Nun ja, es gibt ganz offiziell Bundeswehrwindeln so richtig mit Versorgungsnummer und allem. Aktuell weiß ich zwar nicht, von welchem Hersteller, aber früher waren es Abena und Tena. Man würde sich also vermutlich schon um uns Inkos kümmern, sofern wir da irgendeine nützliche Funktion erfüllen.

Alles weitere dürfte nur endlose Spekulation sein. Es gab dazu wohl mal eine Richtlinie und den Entwurf einer Verordnung, die im Verteidigungsfall in Kraft gesetzt worden wären, aber entweder ist die nur intern als Dienstsache verfügbar oder wurde schon 20 Jahre lang nicht mehr aktualisiert und ist deshalb aus dem Internet verschwunden. Leider ist mein Bekannter (med. Offizier/ Arzt) auch schon ein paar Jahre nicht mehr bei dem Verein, also kann ich dazu auch nichts genaueres sagen, wie der aktuelle Stand der Dinge ist.

Pi

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Ich gehe fest davon aus, dass es in einem heutigen Kriegsfall vor allem auf spezialisierte, gut ausgebildete Kräfte ankommt, die mit modernen Mitteln und Taktiken operieren – nicht auf Masse und unausgebildete Rekruten, wie es z. B. in Russland der Fall ist, wo man Männern zum ersten Mal ein Gewehr in die Hand drückt.

Naja, so naiv sollte man wohl nicht sein. Selbst in der Ukraine werden Leute an die Front geschickt, die vorher keinerlei militärische Qualifikationen hatten. Ja, der Krieg wird anders und durch Drohnen, KI und „intelligente“ Waffen auch unpersönlicher und maschineller, aber am Ende gewinnt trotzdem der, der den meisten Schaden beim Gegner verursacht und das können eben auch zu Gleitbomben umgebaute 30 Jahre alte, überlagerte konventionelle Bomben sein. Auch das wurde ja in der Ukraine bewiesen.

Pi