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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Jeremy V: Lukas



Chappie
25.12.2016, 17:48
Am Strand war es erst recht kalt. Es wehte ein Wind, der ihnen in die Jacken fuhr, der so stark war, das sie sich fast dagegen lehnen konnten. Das Meer war aufgebracht, Wellen brachen sich am Strand, Sand wurde über den Boden geweht, kurz, es war ziemlich ungemütlich.

Erik hatte einen Frisbee mitgebracht und spielte mit Julian. Sie warfen sich die Scheibe gegenseitig zu, aber Julian hatte Schwierigkeiten, die Scheibe zu fangen, wenn Erik sie warf. Erik war viel größer und kräftiger, und er warf viel weiter als Julian.

"Hey, Jeremy, was ist los, hast du gar keine Lust?" Erik warf Jeremy die Scheibe zu, aber der stand nur abwesend am Rande. Er hatte die Hände in den Anoraktaschen und schüttelte den Kopf.

Julian trabte los, um die Scheibe zu holen, die in den Sand gefallen war.

"Er hat die Hosen voll", rief er Erik zu, "wetten?"

Jeremy hatte Lust, Julian in den Boden zu rammen. Allmählich war das nicht mehr lustig. "Das musst Du gerade sagen", murmelte er vor sich hin. Der Kleine konnte einem ganz schön auf die Nerven gehen. Dazu kam, das an seinen Unterstellungen etwas dran war und Jeremy keine Lust hatte, das Erik das mitbekam.

Er trottete langsam zurück in Richtung Klinikgelände. Auch Julian und Erik schien kalt geworden zu sein, denn sie kamen hinter ihm her.

"Verdammte Kälte", sagte Erik, als sie ihn eingeholt hatten.

"Dreckskälte", machte Julian.

"Saukälte", sagte Jeremy, und sie lachten zusammen.

Schliesslich kamen die zu den Sanddünen, die am Rande des Strandes lagen. Hier gab es windgeschützte Stellen. Sie liefen zu dritt auf eine Düne und wollten auf der anderen Seite herunterrutschen. Sie sprangen über den Dünenkamm und merkten erst jetzt, das hinter der Düne, im Windschatten, zwei fremde Jungen sassen. Die beiden waren älter als sie, auch als Erik, vielleicht 15 oder auch schon 16.

Die anderen hatten sie bemerkt und sich umgedreht.

Erik war stehen geblieben, jetzt drehte er sich um und wandte sich zurück in Richtung der Düne, die sie herabgesprungen waren.

"Hey! Wartet mal!" rief einer der beiden. Erik versuchte, die Düne wieder hochzulaufen. Einer der beiden, ein schwarzhaariger Junge mit Lederjacke, lief ihm nach. Er war viel schneller als Erik und erreichte ihn relativ mühelos. Er riß an Erik's Jacke und brachte ihn so zu Fall. Beide rollten zusammen ein Stück die Düne hinunter. Jeremy, der noch immer vor Schreck erstarrt war, sah sich zu Julian um, der jetzt ebenfalls das Weite suchte. Er war mittlerweile bereits oben auf der Düne angekommen. Jeremy rannte ihm hinterher. Hinter ihm hörte er ein Geräusch. Der andere Junge rannte ihm hinterher. Jeremy hatte einen guten Vorsprung, aber er merkte schnell, wie sein Atem flacher wurde. Schliesslich bekam er gar keine Luft mehr, fiel in den Sand, und in dem Moment hatte der große Junge ihn erreicht. Er riß ihn am Kragen seines Anoraks hoch und drehte ihn zu sich um. Jeremy sah ihm ins Gesicht - ein schönes Gesicht. Jeremy sah blonde Haare, grüne Augen, weiße Zähne. Der Junge hielt ihn weiter fest, während Jeremy nach Atem rang.

"Hast du ihn?", schrie der andere Junge von unten.

Der blonde Junge sah Jeremy noch eine Weile an, direkt in die Augen. Dann ließ er ihn los, er gab ihm einen Stoß und Jeremy fiel zurück in den Sand.

"Ja, klar".

"Bring ihn runter!"

Jeremy wurde erneut an den Klamotten gegriffen und über den Sand gezogen. Er rappelte sich auf und schaffte es, auf die Beine zu kommen. Der große Junge hielt ihn aber immer noch fest am Kragen gepackt und zog ihn zurück in den Dünenkessel. Unten angekommen, versetzte er ihm einen Stoß, so dass Jeremy neben Erik in den Sand fiel.

"Hey, dich kenne ich doch!". Der Schwarzhaarige drehte Erik mit dem Fuß auf den Rücken. "Kommt ihr nicht auch aus der Klinik?"

Erik nickte.

"Da sind welche von den kleinen Spasts. Wusstest du, das es eine Abteilung für Zurückgebliebene gibt?", fragte er seinen Freund.

"Echt?"

"Ja, so Autismus und ADHS Kinder. So gestörte".

Der andere antwortete nicht.

"Seit ihr so Zurückgebliebene?", fragte der erste Junge Erik. "Oder kannst Du auch sprechen?"

"Lass sie", sagte der andere. "Die petzten schon nicht".

"Das will ich euch auch geraten haben", drohte der Schwarzhaarige. Er wahr ziemlich groß und kräftig, wirkte fast schon erwachsen, aber er hatte noch keinen Bart. Jetzt erst sah Jeremy, dass er eine komische, lange, selbstgedrehten Zigarette in der Hand hielt. Er kniete sich auf Erik, der unter seinem Gewicht stöhnte, und zündete sich seine Zigarette an. Er rauchte, und blies Jeremy den Rauch voll ins Gesicht. Jeremy bekam einen Hustenanfall und krümmte sich zusammen. Durch den Tränenschleier vor seinen Augen bekam er mit, wie es Erik gelang, sich loszureissen und das Weite zu suchen.

"Hey du Spast, bleib hier!" Der Junge rappelte sich auf, offenbar hatte Erik ihm einen Schlag verpasst, und rannte ihm hinterher. Mehr bekam Jeremy nicht mit, da er einen weiteren Hustenanfall hatte.

"Hast du Asthma?"

Der blonde Junge hatte sich über ihn gebeugt. Jeremy rang nach frischer Luft und nickte.

"Hast du ein Spray?"

Sein Asthma-Spray! Jeremy hatte es ganz vergessen. Er versuchte, es aus seiner Jackentasche zu kramen, aber bekam einen weiteren Anfall. Diesmal bekam er kaum noch Luft. Seine Lungen schmerzten und brannten, er kippte in den Sand. Der andere Junge fummelte an ihm herum, half ihm, sich aufzusetzen und drückte ihm etwas hartes, kaltes in den Mund. Sein Spray! Jeremy schaffte es, einen tiefen Zug zu nehmen. Dann noch einen, das war gut, er spürte, wie die Wirkung einsetzte, aber es dauerte noch einige Zeit, bis er wieder richtig Luft bekam. Als er wieder klar sehen konnte, merkte er, das der blonde Junge immer noch da war.

"Was wollt ihr eigentlich von uns?", keuchte Jeremy ihm trotzig entgegen.

"Ach, das ist nur Jonas. Der hat halt voll Schiss, das er wegen dem Kiffen Ärger kriegt".

"Von uns?"

"Nee, von den Ärzten. Es ist auf Entzug und fliegt raus, wenn die checken, das er irgend was nimmt".

"Und du? Bist du auch auf Entzug?"

"Ja. Ich fliege auch raus, wenn ihr petzt. Petzt ihr?"

Jeremy schüttelte den Kopf. "Warum? Das geht mich ja nichts an".

Der Junge grinste. "Das stimmt. Hey - was ist mit dir, kannst du laufen? Tut mir echt leid, Kleiner, das ich dich so rumgestossen habe. Wir wollten euch nur einen Schrecken einjagen. Ich wusste echt nicht, das du Son schlimmes Asthma hast".

"Schon in Ordnung."

"Soll ich dich zurück bringen?"

Nein, lass mich alleine, wollte Jeremy sagen, aber aus seinem Mund kam: "Okay".


"Hast du echt ADHS", fragte der Junge, als sie auf dem Rückweg waren.

"Nee, nur Asthma".

Sie stapften nebeneinander her. Jeremy fühlte sich total erschöpft, so wie damals im Schulsport, kurz bevor er zusammengebrochen war. Er wollte jetzt nur noch nach Hause, also in die Klinik, zu Ronny. Ronny sollte sich um ihn kümmern.

"Soll ich dich stützen?"

"Nee, geht schon". Jeremy blieb stehen und sah den Jungen an. Der erwiderte Jeremy Blick. In seinen Augen lag aufrichtiges Bedauern. Als hätte er eine Vase heruntergeschmissen und zerbrochen und wollte nun versuchen, sie wieder zusammenzukleben.

"Ich bin übrigens Jeremy".

"Hey - ich bin Lukas".


"Ich verrate dich nicht", sagte Jeremy, als sie ein Stück weiter gegangen waren.

"Cool. Und dein Freund?"

"Erik bestimmt auch nicht".


"Was passiert denn, denn du rausfliegst?", fragte Jeremy.

"Ich komme in den Knast".

Jeremy grinste. "Klar".

"Nee, echt. Ich habe Mist gebaut und habe als Bewährungsauflage bekommen, diese Therapie zu machen".

"Echt?" Jeremy überlegte, ob das sein konnte. "Was hast du denn gemacht?"

"Kleine, neugierige Jungs wie dich verprügelt!" Lukas grinste ihn an. Jetzt fiel ihm auf, das Lukas doch ziemlich anders aussah als die Jugendlichen an seiner Schule ausgesehen hatten. Ein Zahn war angebrochen, und er hatte einen kleinen Stahlring in der Augenbraue.

"Wo.. Wohnst du denn?", ging das Gespräch nach einigen hundert Metern, in denen sie schweigend nebeneinander hergetrottet waren, weiter.

"In Haus E. Wohnen ist aber übertrieben". Lukas grinste.
Haus E.. Jeremy hatte kein Ahnung, wo das war. Eigentlich, dachte er, kannte er sich überhaupt nicht aus in der Klinik, obwohl er schon ein paar Wochen dort war.

"Und.. Wie lange bist du schon hier? Also in der Klinik?"

"Seit zwei Wochen".

"Und wie lange bleibst du noch?"

"Noch vier Wochen. Wenn alles gut läuft".

"Und dann darfst du zurück zu deinen Eltern?"

"Nee. Ich wohn im Heim".

"Echt?"

"Ja".

"Ist es... schlimm da?"

"Nö, ganz okay".


Lukas brachte Jeremy bis zum Außengeländer der Klinik, dort verabschiedeten er sich mit den Worten "Nichts für ungut, Kleiner".

Als Jeremy auf seiner Station ankam, herrschte dort helle Aufregung. Erik hatte erzählt, das sie von zwei Jungen verprügelt worden wären, und Sandra und Susanne waren kurz davor, die Polizei zu rufen.

"Haben sie dir etwas getan?", schrie Sandra ihn an.

"Nein.. Sie haben mich nur ein bisschen herumgeschubst. Es war nicht schlimm".

"Wie du aussiehst!", schimpfte Susanne. Jeremy hatte ein bisschen Sand in den Haaren und an seinen Sachen.

"Wir müssen dich erstmal waschen!". Sie begann, ihm die Jacke auszuziehen. "Hast du die Jungen erkannt?"

"Nein."

"Erik sagt, die kommen hier aus der Klinik. Er ist mit Ronny los, um sie zu suchen".

"Ich kenne sie aber nicht", log Jeremy.

Susanne hatte ihm den Anorak und die Schuhe ausgezogen, jetzt musste er sich aufs Bett setzen, während Susanne ihm den Pulli und die Hose auszog. Als er nur noch die Strumpfhose anhatte, schnüffelte sie.

"Oh je, hast du die Windel voll?" Sie drückte seine Brust nach unten, bis er auf dem Bett lag, hob seine Beine an und zog ihm die Strumpfhose aus. "Oh je", sagte sie noch einmal, als er nur noch in seinem Body auf dem Bett lag. Sie holte eine Wickelunterlage und knöpfte seinen Body auf. "Du bist ja ganz schmutzig". Sie nahm ihm die Windel ab und säuberte ihn mit Feuchttüchern. "Hattest du solche Angst, ja?"

Jeremy hatte gar nicht so viel Angst gehabt. Und Lukas hatte ihm gar nichts getan. Aber er schämte sich zu sehr, um überhaupt etwas zu sagen.


Susanne war noch damit beschäftigt, Jeremy zu wickeln, als Ronny und Erik hereinkamen.

"Hier bist du!" Ronny beugte sich über Jeremy und küsste ihn auf die Stirn. "Wir haben uns solche Sorgen gemacht!".

Erik rümpfte die Nase. "Hier stinkt's!"

"Das ist gleich vorbei. So riecht es eben, wenn Kinder Kacka in der Hose haben", entschuldigte sich Susanne. Jeremy wäre mal wieder am liebsten im Boden versunken. Seine Augen wurden feucht, während Susanne seinen Body zuknöpfte und ihm die Strumpfhose wieder hochzog. Als sie fertig war, hob Ronny, der neben ihr gestanden hatte, ihn aus dem Bett und nahm ihn auf den Arm.

"Nicht weinen, Jeremy. Es ist alles vorbei".

Jeremy schlang seine Arme um Ronnys Hals und trocknete seine nassen Augen an seinem Hemd.

"Du musst mit versprechen, das ihr nicht mehr alleine so weit weggeht. Es hätte sonst was passieren können!"

Jeremy fühlte frische, heisse Tränen über seine Wangen laufen. Er schniefte. Ronny trug ihn zum Tisch, an dem Erik saß, und setzte ihn vorsichtig auf den Stuhl. Er wischte ihm die Tränen mit seinem Ärmel aus dem Gesicht.

"Und gerade die älteren Jugendlichen aus dem Haus gegenüber solltet ihr meiden. Die haben - ganz andere Probleme als ihr".

Read the original news thread here (http://www.wb-community.com/showthread.php?t=51284).

teddibär
28.12.2016, 21:26
Hallo Chappie,
ich mag deine Geschichten, weil sie so real und lebensecht sind und außerdem meinem Geschmack entsprechen.
Ob Frisbee-Spielen bei Sturm jedoch so eine gute Idee ist weiß ich nicht. Vor ein paar Tagen war es hier genauso windig wie in der Geschichte, und die Frisbeescheibe wäre garantiert nicht kontrollierbar gewesen ;-)

Liebe Grüße,
Teddi

DerDaniel
22.01.2017, 18:55
Ich muss gestehen, die Geschichte gefällt mir! :)
Sie ist sehr realistisch, guter Stil und es" kommt auch nicht in jedem Satz vor.
Ja, ich würde sehr gerne mehr über Jeremy und seine Freunde lesen!
Danke erst mal für diesen Teil! :)

charliewilson
25.01.2017, 07:26
Also ich finde die Geschichte auch sehr gut... Vor allem weil sie sehr realistisch ist und es nicht so extrem um Windeln geht. In dem Maß in dem das alles erwähnt wird ist es super! So ist es nicht im Vordergrund sondern ein wichtiger Teil einer "normalen" Geschichte über einen Krankenhausaufenthalt. Bis jetzt habe ich noch keine Geschichte gelesen die so realistisch ist, was ich aus eigener Erfahrung von verschiedenen Krankenhausaufenthalten in dem Alter von den Jungs aus der Geschichte weiß... Zwar nicht dass 4 Jungs in einem Zimmer sind die nachts Windeln brauchen aber mehr als einer doch schon^^ Im großen und ganzen ist die Geschichte also top und ivh hoffe der Stil bleibt auch so erhalten und bald kommt der nächste Teil