Original von Grinsekatze

Wie streng sind die Diagnosekriterien? Sind Differenzdiagnosen ähnlich sozialerwünscht (ich meine damit, dass Asperger im Gegenteil zu beispielsweise Sozialphobie einen tendenziell besseren Status hat).
Würde ich so nicht behaupten. Gerade Asperger hat mit sehr vielen (meist negativen) Vorurteilen zu kämpfen. Bei der Sozialphobie ist alles relativ "eindeutig". Über die strenge der Diagnosekriterien zu Urteilen ist sehr schwer und das ist auch unter Fachleuten der Hauptstreitpunkt. Fakt ist, dass die Übergänge zur "normalität" fließend sind und es fast unmöglich ist eine klare "Grenze" zu ziehen.

Original von Grinsekatze
Gibt es starke Anstiege in der Anzahl der diagnostizierten Aspies, möglicherweise sogar in Korrelation mit der kulturellen Darstellung der Diagnose (Big Bang Theory, Nerdisierung der Jugendkultur,...)? Es ist ja so, dass die Diagnose von irgendetwas Psychologischem immer auch kulturabhängig ist: so ist ein deutlicher Zusammenhang zwischen der Darstellung von Depressionen und der Diagnose derselben zu beobachten. Gibt es gesellschaftliche Zusammenhänge? Ich verstehe schon, dass die Biologisierung des Gefühls, auf einem fremden Planeten zu leben, sehr hilfreich sein kann und auch typisch für die gegenwärtige Psychologie ist, trotzdem denke ich, dass das eine sinnvolle Perspektive sein kann.
Was ich glaube aber nicht belegen kann: Autisten hat es schon immer gegeben. Diese waren halt immer die "komsichen Außenseiter" oder vielleicht auch "verrückte Wissenschaftler". In die ICD-Diagnosekriterien wurde das Asperger Syndrom ja erst Anfang der 90er aufgenommen und erst in den letzten Jahren wirklich bekannt. Es ist eine logische Konsequenz, dass auch mehr Leute diagnostiziert werden. Ich glaube auch nicht, dass die Gesellschaft "nerdiger" wird. Die "Nerds" fallen nur stärker auf als früher und haben einen besseren Status erlangt, was der technologisierten Gesellschaft zu verdanken ist.

Original von Grinsekatze
Ich habe den Verdacht, dass es eine gewisse gesellschaftliche Tendenz gibt, die Umwelt als Dingwelt, als etwas, zu dessen Verhaltenweisen man sich nicht verhalten kann, zu dem möglicherweise ein Draht fehlt, wie Du ja zumindest im Bezug auf Letzteres schreibst, tb_nico, wahrgenommen wird und dass das große Autismus-Spektrum ein bisschen eine Catch-All-Diagnose dafür darstellen könnte.
Den ersten Teil hab ich nicht verstanden aber zur "Catch-All-Diagnose" kann man nur sagen, dass bei einer Diagnose schon darauf geachtet wird, andere Störungen auszuschließen: Schizophrenie, Sozialphobie, schizoide PS, Borderline usw. Dass Menschen autitische tendenzen haben ist hier wieder nicht die Frage, sondern eher ab wann man es als "Störung" betrachten kann.

Original von Grinsekatze
Man beachte: ich sage damit nicht, dass die Diagnose falsch oder eine Entschuldigung ist, ich finde diese Ebene nur sehr interessant. Möglicherweise könnte man das auch mit den Veränderungen von Männlichkeitsbildern in Zusammenhang bringen. Passt das, was Du beschreibst, tb_nico nicht auf den Klischee-cowboy-Mann?
Also der "Klischee-cowboy-Mann" den ich im Kopf habe wirkt auf mich ja sehr unautistisch....

Original von Grinsekatze
Würde eine solche Diagnose jemanden gestellt werden, von dem vor fünfzig Jahren niemand erwarten würde, große Empathie zu haben? Gibt es insofern eine statistische Korrelation zwischen erstens Diagnosen von Asperger und zweitens der Verschiebung der Arbeitswelt/des Männlichkeitsbildes zu Soft Skills, zu Empathie?
Durchaus möglich. Da sind wir wieder bei der Frage ob und ab wann man von "Störung" sprechen kann, wenn Aspies eigentlich noch "normal" sind aber die gesellschaftlichen Erwartungen einfach ungeeignet sind. Genau diesen Eindruck habe ich tatsächlich auch. Und die meiste Aspies sehen sich auch nicht als "Krank" an, sondern einfach nur "anders".